Die Blume, die Kerze und der Stern

Prolog

Einst gab es eine Blume, die schon bei normalem Tages- oder Mondlicht schön anzusehen war. Die Leute dachten sich im Vorübergehen oft, wie schön sie doch erst im Abendlicht oder in der Morgendämmerung sein musste. Die wenigen, die jemals ihren Duft in sich aufnehmen konnten, vergaßen ihn nie wieder und erzählten noch ihren Enkeln am Lagerfeuer von der kleinen Blume auf dem hohen Berg. Doch niemand hatte bisher ihre wahre Schönheit gesehen oder wenn, dann behielten sie es für sich wie einen großen Schatz. Trotz allem war die kleine Blume aber einsam, da sich niemand mit ihrer Schönheit messen konnte.

Einst gab es eine Kerze, die sicher und behütet unter dem Dach einer Berghütte darauf wartete, entzündet zu werden und der Umgebung ein wenig Licht und Wärme zu spenden. Leider war die Hütte schon lange verlassen, so dass die Kerze einsam warten musste. Nach einiger Zeit (es waren wohl mehrere Jahre) hatte sie das Warten satt und überlegte, wie sie jemanden finden könne, der sie entzündete und für den sie da sein könnte. Nach langer Bedenkzeit (denn Kerzen denken langsam) wusste sie, dass sie nicht nur einfach irgendjemandem scheinen wollte, es sollte eine ganz besondere Person sein.

Einst gab es einen Stern, der so hell strahlte, dass er ohne weiteres für zwei Licht gab. Er hätte sicherlich einen Teil seiner Kraft in Sternschnuppen geben können, ohne dass er dabei dunkler wurde. So manch einsamem Wanderer wies er den Weg nach Hause, viel Gutes bewirkte sein Licht. Ein kleiner Planet, der um ihn kreiste, hinderte ihn jedoch daran, seine volle Pracht zu entfalten oder einen anderen Stern zu finden, der ebenso hell strahlte. Auch der helle Stern war einsam.

Die Blume

Eines Tages machte sich die schöne Blume auf den Weg und wanderte den Berg auf und ab. Nachts leuchtete ihr der Stern den Weg und tagsüber bewunderte er sie. Nach einigen Monaten Wanderschaft wurden die Blume und der Stern gute Freunde, die sich gegenseitig bewunderten und schätzen. Beide lernten einander so gut kennen, dass sie die wahre Schönheit des anderen sahen und so freuten sich über jede gemeinsame Stunde. Die Einsamkeit in ihrem Herzen konnte die Freundschaft aber nur kurz stillen, lag doch eine beinahe unüberwindbare Entfernung zwischen beiden.

Die Wochen verstrichen und noch immer wanderte die Blume durch die Berge, als sie plötzlich an eine verlassene Berghütte kam. Vorsichtig öffnete sie die Tür und horchte auf die Stille im Inneren. Als sie niemanden hörte, trat sie ein und sah sich ein wenig um. Nur eine einzelnen Kerze stand auf dem Tisch und irgendwie hatte sie das Gefühl, dass das Wachsgebilde ihr gerne Wärme und Licht schenken würde.

Die Kerze

Die kleine Kerze hatte das Warten satt. Sie wollte gerade aufstehen und draußen nach einer liebenswürdigen Person suchen, der sie ihr Licht geben konnte, als unvermittelt die Tür knarrte. Sofort erstarrte die ängstliche Kerze und rührte sich keinen Millimeter, obwohl sie innerlich vor Angst bebte.

Zuerst geschah nichts, außer, dass kalte Luft von draußen hereinströmte. Dann aber spähte eine kleine Blume um die Türkante und sah sich vorsichtig um. Zögernd ging die Blume auf den Tisch zu, auf dem die vor Schreck immernoch erstarrte Kerze stand und betrachtete diese. Kurzentschlossen nam sie ein Streichholz vom Kaminsims und entzündete den Docht der Kerze.

Die Kerze verstand zuerst überhaupt nicht, wie ihr geschah, tat aber trotzdem artig ihre Pflicht. Nachdem sie ihre Furcht ein wenig verloren hatte, sprach sie die Blume an und kurz darauf waren beide in ein angenehmes Gespräch vertieft.

Die Blume freute sich über Licht und Wärme und die Kerze freute sich über die Schönheit und den wunderbaren Duft der Blume. Beide verbrachten lange Zeit miteinandern, außerhalb der Hütte zog die Sonne so oft vorbei, dass sogar der Mond beinahe einmal vollständig gewechselt hatte. Beide waren glücklich.

Der Stern

Nach einer Woche vermisste der Stern seine Freundin, die Blume, und er suchte im ganzen Land nach ihr. Den Berg untersuchte er sogar besonders genau. Er leuchtete in jede Höhle und strahlte in jede Spalte aus Angst, sie könne sich verletzt haben. Nach einem Monat anstrengender und aufreibender Suche fand er sie schließlich in der Berghütte sitzen und mit der Kerze sprechen.

Da erinnerte er sich an die schöne Zeit, die er mit der kleinen Blume erlebt hatte und schien mit aller Kraft durch das Fenster, um sie auf sich aufmerksam zu machen.

Epilog

Als die kleine Blume das Sternenlicht von draußen hereinleuchten sah, blies sie schweren Herzens die Kerze aus und ging aus der Berghütte hinaus. Was aus ihr und dem Stern wurde, wusste die Kerze nicht, sie weinte noch eine letzte heiße, wunderschöne Wachsträne und legte sich schlafen. Am nächsten Tag dachte sie lange nach und kam zu dem Schluß, dass es schön war, wenigstens eine kurze Zeit für jemanden so schönen wie die kleine Blume scheinen zu dürfen und hoffte, dass sie und der Stern glücklich werden würden. Die Kerze wusste nicht, dass die Blume und der Stern niemals vereint sein können und träumte nachts häufig vom Glück der beiden. Langsam erstarrte die Kerze, die nur noch ein Docht in einer unebenen Fläche trockener Wachstränen war.


Geschrieben am: 01.01.2004 von Kronn
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