Dämonen

I. Prolog

Tief in meinem Inneren, in meinem Herzen, in meiner Brust, wohnen Dämonen. Nein, dort toben Dämonen, wühlen mein Innerstes auf und zerstören und beschädigen alles, was ihnen unter die Klauen kommt. Leider ist dort nichts außer meinem Selbst und meiner Selbstkontrolle vorhanden. Gewalttätig und blind für jeden Schaden zerschlitzen und zerstückeln meine Dämonen meine Seelenruhe.

II. Das Auto

Ich gehe durch die Straßen. Mein Auto steht in einer geräumigen Parklücke. Ich pfeife Vivaldis "Vierjahreszeiten (Frühling)" und freue mich über den leichten Wind, der mir entgegenweht. Ich spüre, dass es heute regnen wird. In der Luft hängt diese gewisse Spannung, die jeden Moment losbrechen kann. Ich lächle in Vorfreude über einen heftigen Regenguss. Ich bin auf den Weg zu einigen guten Freunden, die ich längere Zeit nicht mehr besucht habe.

Ich will gerade den Zebrastreifen überqueren und so einem angenehmen Nachmittag ein wenig näher kommen, also mich ein Auto fast anfährt. Mit quietschenden Reifen und schreckerfülltem Gesicht kommt der Kleinwagen zum stehen. Von weit entfernt höre ich ein leises Klicken.

Ich lasse meine Tasche fallen und sprinte zur Fahrertür des Autos. Mein Herz rast, meine Dämonen toben und wüten, es wird heftig auf das Fenster eingeschlagen. Der Fahrer sieht mich aus angstgeweiteten Augen an. Zurecht. Die Fensterscheibe splittert wider Erwarten unter meinen Fauststößen ins Wageninnere. Mit brutaler Gewalt wird der Fahrer herausgezogen. Die Splitter der Scheibe zerreißen seine Kleidung und die darunterliegende Haut. Hände, geballte Fäuste, schlagen blindwütig auf ihn ein. Plötzlich liegt ein Messer, scharf und tödlich in diesen Fäusten. Die dämonischen Hände lassen das Messer wieder und wieder auf das Opfer herniedersausen.

Ich fliehe. Eingestiegen in das Auto, das kurz vorher mit schuld- bewusstem Blick abrupt gebremst wurde, finde ich schnell den ersten Gang und beschleunige. Das Opfer der Dämonen verwandelt den Zebrastreifen in ein abstraktes Kunstwerk aus Aspahlt, Weiß und Blut. Ich lächle und höre im Radio klassische Musik: Vivaldis "Vierjahreszeiten". Leider nicht der Frühling, aber der Herbst ist auch gut.

III. Die Schule

Langsam und entspannt ersteige ich die Treppenstufen der Schule. Heute haben wir Deutsch und Physik. Beide Fächer sind interessant, in mir regt sich Vorfreude. Aufmerksam nehme ich die Einzelheiten des alten, wahrscheinlich sogar denkmalgeschützten Bauwerks in mich auf. Dort oben müsste mal der Putz erneuert werden. Ich verharre kurz in der Vorhalle und studiere die Ankündigungstafel: bis Dienstag muss die Kurswahl abgegeben werden. Mit einem Lächeln auf den Lippen versuche ich ein kleines Liedchen zu pfeifen. Mit mäßigem Erfolg pfeife ich eine Melodie, die mit Sicherheit noch nie verwendet wurde.

Ich bin noch etwas zu früh, habe noch etwas Zeit. Sorgsam lehne ich meine Schulsachen an die Wand und lasse mich zu Boden sinken. Auf halbem Weg nach unten höre ich weit entfernt ein leises Klicken.

Blitzartig richte ich mich auf. Woher kam dieses Geräusch? Um diese Zeit ist das Schulgebäude normalerweise sehr ruhig. Ohne Vorwarnung saust eine Faust auf die Wand zu. Wieder und wieder schlagen die dämonisch wirkenden Klauen auf den Stützpfeiler ein. Blut spritzt und ich spüre starke Schmerzen. Ein Mitschüler kommt mir entgegen und fragt, was vor sich geht. Ohne Zögern wird mein Mitschüler von roten Krallen attakiert. Sein erstaunter Gesichtsausdruck lässt ihm keine Zeit zu reagieren. Seine Augen werden von einem Stift ausgestochen. Er selbst wird von den rot-tropfenden Dämonenfingern die Treppe herunter getreten. Die Wände und die Stufen werden vom Opfer meiner Dämonen zu einem abstrakten Gesamtkunstwerk erhoben. Hauptmerkmal sind die erschreckend natürlich wirkenden Blutspuren und die erstaundlich realistisch ausblutende Schülerleiche.

Ich fliehe. Eingestiegen in das Auto, das kurz vorher mit schuld- bewusstem Blick abrupt gebremst wurde, finde ich schnell den ersten Gang und beschleunige bis 7000 U/min. Ich lächle und höre im Radio klassische Musik: Vivaldis "Vierjahreszeiten". Leider nicht der Frühling, aber der Herbst ist auch gut.

IV. Die Fahrt

Ohne die Möglichkeiten der Bremse zu stark zu nutzen, fliege ich durch die Stadt. Ich fühle mich frei und unsterblich. Das Lenkrad und der Schalthebel sind von meinem Blut überzogen. Ein kurzer Blick verrät mir einen dreiviertel-vollen Tankfüllstand. Genug, bei weitem genug, um ein paar Stunden durch die Stadt zu fahren. Ich kurbele die Fenster herunter und genieße den Fahrtwind. Aus irgendeinem Grund höre ich weit entfernt ein Klicken und die leisen Worte:

"Morgen ist unwichtig!"

Ich weiß, dass die Stimme recht hat. Ich fahre mit 120 km/h durch die Innenstadt. Rote Ampeln sind was für Weicheier, schreien meine Dämonen. Recht haben sie, kreische ich mit heiseren Stimmbändern zurück. Niemand hört mich, ich fahre zu schnell, um verständlich zu sein. Meine Dämonen sind in Hochstimmung. Ich fühle den Schmerz schon beinahe körperlich. Sie zerreißen meine Seele, liefern mich der Selbsterkenntnis aus.

Ich bin zweifacher Mörder. Will ich dreifacher werden? Ja, ich will, aber ich kann nicht. Niemals mehr. Die Freiheit ist mir versagt. Nichts, überhaupt nichts kann mir wieder diese Losgelöstheit geben, diese Seelenruhe geben.

Meine Dämonen sind still und zufrieden. Ich beschleunige den Wagen schnellstmöglich auf das Maximum. Die Straßen sind leergefegt. Ich bin allein. Nur ich, die Geschwindigkeit und der Bahnübergang. Ich biege hart rechts ab. Nach wenigen Sekunden höre und sehe ich den Zug. Ein seltener Anblick, so ein ICE von vorne.

Ich will leben.

Meine Dämonen lachen.

Treffer!

V. Epilog

cnpa - Gegen Abend hat sich der vermeintliche Mörder zweier Menschen auf einem Bahngleis selbst umgebracht. Nach ersten Berichten der Behörden wurden Fotos der Opfer als Kunstwerke anerkannt und meistbietend an Liebhaber verkauft.


Aus der © CHAT NOIR Mailbox: www.chatnoir.de und online unter diesen Rufnummern
Geschrieben am: 13.06.2002 von Kronn
Kommentare zu diesen Text bitte an kronn@kronn.de
Dieser Text ist unter der Adresse http://kronn.de/texte/epik/daemonen.htm zu erreichen.