Elaine - Teil I

Party

"Klaro, bis morgen dann" sagt sie und beendet das Gespräch. Einen Moment hängt sie ihren Gedanken nach, bevor sie aufsteht und in die Küche geht. Unschlüssig steht sie vor der geöffneten Kühlschranktür, leicht fröstelnd. Nach einer kurzen Weile gönnt sie der Kühlschranklampe eine erholsame Pause indem sie die Tür wieder schließt. "Erstmal Duschen" sagt sie laut zur Stille ihrer Wohnung.

Kaum eine halbe Stunde später steigt sie frisch und erholt aus der Dusche. Ein kurzer Blick in den Spiegel: Okay, mit ein bißchen Make-up unwiderstehlich. Gedankenverloren steht sie vor ihrem Kleiderschrank und zählt die kleinen naßen Fußabdrücke, die sie hinterlassen hat. Neun. Sie wendet sich wieder der äußerst wichtigen Kleidungsfrage zu. "Ja", sagt sie wie zu sich selbst, "heute abend gehen wir feiern, Elaine". Sie redet gerne, wenn niemand da ist.

Wieder eine halbe Stunde später verläßt sie ihre Wohnung und geht in Richtung Busstation. Um diese Uhrzeit fahren kaum noch Autos auf der Straße, zumindest nicht in den Außenbezirken. Entweder sind die Besitzer zu Hause und bleiben dort auch oder sie sind schon weg. In der Stadt. Mittendrin. Feiern.


Ja, es ist Wochenende. Eines dieser Wochenenden, an denen alles möglich ist und mal wieder nichts passieren wird. Es ist häufig so; jedesmal ist die erlösende Freiheit zum Greifen nahe; jedesmal lässt man die Chance aus nichtigen Gründen verstreichen. Aber diesmal nicht. Heute Nacht ändert sich die Welt.


Elaine geht langsam auf die Busstation zu, wissend, dass der Bus zu spät kommen wird. Vielleicht fällt er auch aus. In einer geübten Handbewegung dreht sie sich in Richtung des Zeitplan und schaut gleichzeitig auf ihre Armbanduhr: Super, nur noch 5 Minuten. Genug Zeit für eine Zigarette. Lackierte Fingernägel greifen zielsicher nach dem gelblichen Filter. Simultan wühlt die linke Hand in der Jeansjackentasche. In der Jackentasche befindet sich nur das Feuerzeug, aber irgendwie versteckt es sich jedesmal. Endlich bekommt sie es zu greifen und zündet sich die wartende Zigarette an. Genüßlich nimmt sie den ersten Zug, wartet kurz, atmet aus: Es ist wieder so einer dieser Wochenend-Anfänge.

Endlich kommt der Bus. Ein Bus fiel aus, dieser hier hat Verspätung. Es ist wirklich jedesmal das selbe. Aber egal, jetzt beginnt die Show: Als die Türen sich öffnen, senkt sie den Kopf. Sie wartet einen Moment, steigt dann langsam ein. Als sie den ersten Schritt in das Fahrzeug beendet hat, hebt sie langsam den Kopf, schaut dem Busfahrer direkt in die Augen. Sie lächelt: Es ist Raschke. Raschke drückt auch mal ein Auge zu. Sie winkt im zu und schenkt ihm noch ein Lächeln im Vorbeigehen. Es klappt: Schon wieder eine Fahrkarte gespart.

Während der Fahrt beobachtet sie, wie die Häuser vorbeiziehen. Sie beobachtet gerne das Schauspiel, in dem sich die Wohnblocks in Innenstadtgebäude verwandeln. Ab und zu folgt noch ein kurzes Aufbäumen der Wohnhäuser, das aber schnell von der typischen Innenstadtarchitektur abgelöst wird: Chrom, Stahl und Glas zieren die Fassaden der hohen Häuser. Nicht zu vergleichen mit den 20stöckigen Wohn-"Häusern" der Außenbezirke. Es fehlt einfach die Wärme.
Eine weitere halbe Stunde später hält der Bus an. Sie geht wieder nach vorne zum Busfahrer, bedankt sich auf ihre Art bei Raschke und steigt aus. Raschke schaut ihr hinterher. Er merkt nicht, wie sein Mund leicht geöffnet ist. Raschke merkt gar nichts mehr.


Endlich angekommen. Es ist kurz vor Mitternacht, sie hat nicht mehr lange Zeit. Entschlossen bahnt sie sich einen Weg durch die Mengen. Die Innenbezirke stehen nachts in krassem Kontrast zu den Außenbezirken. Hier ist immer Leben, immer Licht, immer Musik. Hier ist Elaine richtig.


Die Turmuhr, vielleicht ein Denkmal für irgendwas, schlägt Mitternacht. Die letzten Töne der altmodischen Glocken verklingen, als sie die Stufen in den Untergrund hinabrennt. Ja, es war eine gute Entscheidung, die neuen Sportschuhe zu nehmen. Die ersten Bässe dröhnen ihr entgegen. Elaine lächelt: Vor der Tür steht Bob und zieht an seiner Zigarette. Keiner weiß, wie Bob wirklich heißt, also wird er einfach Bob genannt. Bob ist eines dieser Geheimnisse in Elaines Leben. Sie kennen sich schon Ewigkeiten, wahrscheinlich besser als sich selbst, aber trotzdem sind sie Freunde.

"Hi El'", ruft Bob ihr entgegen, "'hast dir Zeit gelassen". Mit gespieltem Vorwurf neigt er den Kopf. Sie lacht einfach und umarmt ihn. "Hey Bob. Alles klar?" Sie muss lächeln. Wenn Raschke das wüsste, würden ihm wahrscheinlich alle Träume zerplatzen.


Ab dem Zeitpunkt, in dem beide den Club betreten haben, erinnert sie sich an nichts mehr. Es ist jedesmal das selbe. Sie ist nur jedesmal sehr vergnügt, wenn sie ihn im Morgengrauen wieder verlässt. Deshalb geht sie regelmäßig ins "forgotten realms". Gedankenverloren fingert sie eine Zigarette aus ihrer Jackentasche und wühlt nach dem Feuerzeug.


Geschrieben am: 22.07.2003 von Kronn
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