Elaine - Teil IV

Spielplatz

"Klaro, bis morgen dann" schloss sie die Unterhaltung. Sie sollte sich vielleicht mal einen neuen Spruch ausdenken. Andererseits war es natürlich passend. Aber egal. Sie hatte noch andere Sachen im Kopf als Sprüche am Telefon. Sie konnte und wollte aber noch nicht darüber reden. Zuerst, zuallererst musste sie mit sich selbst ins Reine kommen. Nachdenken. Denken. Vorausdenken.

Elaine wechselte ihr Arbeitshemd gegen ihre geliebte Jeansjacke und schlüpfte in ihre neuen Sportschuhe. Schon im Treppenhaus fingerte sie eine Zigarette aus der zerknautschten Schachtel und wühlte in ihrer Jackentasche nach dem Feuerzeug. Stadtreflexe. Auf halbem Weg nach unten, ungefähr auf Höhe des 7. Stockwerks entzündete sie den Glimmstengel. Eigentlich war Rauchen im Treppenhaus ja verboten. Eigentlich war das Treppenhaus aber auch sauber. Eigentlich interessierte es sowieso keinen, dachte sie, als sie eigentlich über was anderes nachdenken wollte.


Die neuen Schuhe sind echt bequem. In Gedanken versunken steuert sie automatisch die Bushaltestelle an, korrigiert aber noch rechtzeitig in Richtung Park. Jetzt, in der Nacht, wenn alles ruhiger und kühler wird, ist kaum noch jemand hier. Elaine genießt es, allein zu sein. Doch trotzdem wird sie manchmal von ihrer Einsamkeit erdrückt.


Das mit Bob ist schon komisch. Sie telefoniert jeden Abend mit ihm, geht sogar manchmal mit ihm ins "forgotten realms", kennt ihn scheinbar in- und auswendig. Nur seinen echten Namen kennt sie nicht. Vielleicht heißt er ja wirklich Bob. Oder Robert. Oder hat irgendeinen anderen, noch sonderbareren Namen, den er niemandem verraten will. Sie könnte ihn einfach fragen. "Nein, das kannst du nicht" berichtigte sie ihre Gedanken laut. Kaum ausgeprochen wusste sie auch, warum. Entweder würde er von sich aus damit herausrücken oder gar nicht. Erzwingen konnte sie nichts. Nicht bei Bob.

Raschke konnte sie wahrscheinlich zu einigen Schandtaten überreden. Sie musste lächeln, allein beim Gedanken daran. Bei Raschke, dem Busfahrer, war alles ganz einfach. Sie nährte seine Träume ein wenig und fertig. In ein paar Monaten, das hatte er ihr schon erzählt, würde er wieder in die Innenstadtbezirke versetzt. Dann musste sie wieder Fahrkarten kaufen. Sei's drum.

Aber bei Bob wusste sie einfach nicht weiter. Sie vertraute ihm allabendlich Gedanken und Geheimnisse an, obwohl immer ein diffuses Gefühl der Fremde zwischen ihnen war und ist.


Sie erreichte gerade den Kinderspielplatz und beschloss, sich dort einige Zeit hinzusetzen und den Sternen zuzusehen. Schon in ihrer Kindheit hatten die Sterne, diese fernen Lichtpunkte eine beruhigenden Faszination auf sie ausgeübt.

Sie hoffte, dass in dieser Nacht die Sterne ihr einen Teil der Weisheit der Unendlichkeit geben könnten. Sie hoffte, dass ihr ein Teil der Last von den beruhigenden Lichtern abgenommen würde. Sie hoffte auf etwas sehr unwahrscheinliches.

Komischerweise wurden ihre Gedanke wirklich etwas klarer. Aber das lag wahrscheinlich an der frischen Nachtluft und an der Ruhe. Oder die Sterne haben ihr doch geholfen.


Vor ihrem inneren Auge spielte sich gerade eine Club-Szene ab. Sie sprang gerade die letzten Stufen zum "forgotten realms" hinab, sah Bob schon warten. Irgendwie war er immer vor ihr da. Andererseits kam sie aber auch immer zu spät. Bob setzte gerade seinen "du-hast-mich-schon-wieder-warten-lassen"-Blick auf, als sie ihn umarmte und ihm einen Kuß gab.

Sie hatte das nicht geplant. Es war, naja, mehr so ein spontaner Einfall gewesen. "Vielleicht ist da mehr, Elaine, mehr als du dir eingestehen willst..." Der Satz endete in beinahe unhörbarem Flüstern. Diese Erkenntnis war mehr, als sie so einfach verkraften konnte. Natürlich war da mehr. Und jetzt, da ihr die Sterne etwas beim Nachdenken halfen und sie selbst den ersten Schritt gegangen war, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: sie war verliebt.

An sich keine große Sache, sowas passiert andauernd. Nur leider war diesmal Elaine an der Reihe. Bei anderen sieht das zwar immer so einfach aus, aber wahrscheinlich ist es für die meisten genauso überraschend, wenn es bemerkt wird.


Etwas überrumpelt von der neuen Entdeckung von etwas, das schon länger da gewesen sein muss, sucht sie automatisch nach einer Zigarette. Während sie den Spielplatz verlässt, entzündet sie geistesabwesend die Zigarette mit den Feuerzeug, dass sie findet und gesucht hat. Sie geht einen kleinen Umweg, den sie noch nicht kannte, nach Hause.


Geschrieben am: 30.07.2002/22.11.2002 von Kronn
Kommentare zu diesen Text bitte an kronn@kronn.de
Dieser Text ist unter der Adresse http://kronn.de/texte/epik/el-04.htm zu erreichen.