Das große Unglück und die kleine Katastrophe

Lydia (19 Jahre, mittelgroß, kinn-lange braune Haare, eigentlich ganz in Ordnung) legte den ersten Gang ein und fuhr aus der Garage über den kurzen asphaltierten Weg des Grundstücks auf die Straße. Ohne Probleme fädelte sie sich in den fließenden Verkehr ein.

"Wie konnte er es eigentlich wagen?" schrie sie das Lenkrad an. "Wie konnte er es wagen, mich so zu demütigen? Vor allen Leuten?" Sie schaltete in den nächsten Gang und beschleunigte weiter.

Lydia fuhr im gepflegten Mercedes (dunkelblau-metallic, Chromstreifen, Alufelgen, Ledersitze, Nußholzarmaturen, alle Extras, eigentlich ganz in Ordnung) ihres Vaters (Anfang 40, Anzugträger, ordentliche schwarzhaarige Frisur, keine Brille, eigentlich ganz in Ordnung) durch die Stadt (3,5 Millionen Einwohner, gute und schlechte Gegenden, viele verschiedene Einflüsse, eigentlich ganz in Ordnung).

Sie fährt auf der Vorfahrtsstraße, die mal wieder repariert werden könnte. Über die nächste Baustelle, an der genau das getan wird, regt sie sich trotzdem auf. Lydia ist, kurz gesagt, stinksauer. Ihr Vater hatte sie vor der versammelten Verwandschaft bloßgestellt, alle haben gelacht. Impulsiv wie sie ist hat sie sich den Autoschlüssel ihres Vaters geliehen und die direkte Konfrontation vermieden. Auf so einen Familiencrash konnte sie gut verzichten.

"Du kleiner Dreckswagen, verpiss dich!" beschimpft sie die Windschutzscheibe. Angesprochen war natürlich nicht das Glas, sondern ein kleiner Peugeot (dunkelweiß, Roststreifen, verdreckte Plastik-Radkappen, Sitze, Armaturen, ein paar Plüschwürfel am Rückspiegel, eigentlich ganz in Ordnung), der gerade jetzt von rechts nach links abbog. Also: aus der Seitenstraße auf die Gegenfahrbahn. Lydia hupt. Bremsen wäre auch eine Idee gewesen. Kräfte bewirken Verformung, hat sie vorgestern noch in Physik gelernt. Und jetzt im Leben. Der Peugeot wurde zusammen mit dem Fahrer, der nach Lydias Meinung seinen Führerschein im Lotto gewonnnen hatte, herumgeschleudert, drehte sich zweimal, kam zum Stehen. Lydia stellte fest, dass ihr Makeup entweder nicht so gut oder aber zuviel war: Der Airbag war voll davon.

Sie stieg einigermaßen benommen aus, stürmte auf den ehemaligen Kleinwagen und dessen etwas überraschten Insassen zu und stieß wilde Flüche aus. Aus irgendeinem Grund drehte sie sich kurz um und sah das, was vorher wahrscheinlich das Auto ihres Vaters war. Absurderweise überlegte sie, wie lange sie wohl kein Taschengeld mehr bekommen würde.
Splitter der Lampen, Blinker und Scheiben der beiden Autos lagen ruhig und in vollkommener Eintracht auf der Straße beieinander. Der restliche Verkehr staute sich. Plötzlich bemerkte Lydia wieder, dass die Welt auch Ton und Klang hatte, Autos Hupen hatten und nicht jeder Geduld und Verständnis. Sie ging zurück zum Mercedes, der eigentlich noch in Ordnung war, wenn man sich den Peugeot ansah. Ihr Makeup bekam einen letzten Schlag verpasst, als die ersten Tränen den Weg für die folgenden bahnten.

Später, nach zahlreichen Fragen von der Polizei, dem Notarzt, ihrem Vater und der Versicherung, fühlte sich ihre Kehle rauh, trocken und ausgedörrt an. Ihr Vater übernahm nach einiger Zeit die Gesprächsführung, regelte das Finanzielle, füllte Schecks aus. Der Fahrer des anderen Autos hatte vielleicht gar nicht so schlechte Chancen zu überleben, der Notarzt war gut.

"Na, da haben wir ja wohl noch einmal Glück gehabt, junge Dame." sagte ihr Vater und meinte wahrscheinlich den Autoschaden. Lydia umarmte ihn und verzieh im innerlich den Streit vorhin. Der Unfall würde als kleines Unglück in ihrem Tagebuch auftauchen.


Hans hörte ein Klingeln an der Tür und erhob sich von seinem bequemen alten Sessel. Hans lebt allein, seine Frau ist vor langer Zeit gestorben. Seine Gesellschaft sind einige alte Ausgaben des Readers Digest und seine Erinnerungen. Einmal in der Woche, jeden Sonntag, kommt Daniel, ein Zivildienstleistender und bringt ihm etwas Kuchen vorbei. Er bleibt meistens ein paar Stunden und beide verbringen den Nachmittag mit endlosen Gesprächen. Daniel hatte seinen Zivildienst schon vor drei Jahren abgeleistet, kam aber trotzdem beinahe jede Woche vorbei um zu reden. Man kann durchaus von Freundschaft sprechen.

"Ja, einen Augenblick!", rief Hans der Tür entgegen, "Ich bin gleich da." Genauso gleich wie versprochen schob er den Riegel vor der alten Eingangstür beiseite und ließ Daniel ein.

"Guten Tag, Herr Hollendorf." begann der junge Gast und lächelte freundlich. "Ich hoffe, Sie verzeihen mir, der Konditor hatte keine Apfelstücken mehr. Ich habe dafür aber den besten Walnußkuchen der Welt und etwas Kirschtorte mitgebracht."

"Komm doch erstmal herein. Und hör auf, mich Herr Hollendorf zu nennen, da kommt man sich richtig alt vor", sagte Hans mit gespielter Empörung. "Über den Kuchenfall müssen wir aber noch Gericht halten. Setz dich schonmal in die Stube, ich bringe eben den Kaffee." schmunzelte er.

Aus der Küche verbreitete sich bereits der angenehme Kaffeeduft und ließ das kräftige Aroma erahnen. Der Wohnzimmertisch war schon mit Tassen gedeckt, die von Daniel jetzt bewacht wurden. Das bekannte Kaffeearoma verbreitete sich schnell im Raum und schuf eine Atmosphäre, die einem Sonntagnachmittag angemessen war. Im Hintergrund spielte das Radio angenehme klassische Musik, nur zwischen den einzelnen Musikstücken wagte der Moderator kurz den Titel und Komponisten zu nennen. Zwischen den kobaltblau verzierten Porzellantassen wartete die Zuckerdose und das Sahnekännchen aus dem gleichen Service auf die Ankunft des Kaffees, der Kuchen war bereits auf die Kuchenplatte dekoriert, Daniel sah zum Fenster hinaus und lauschte der Musik. Draußen neigte sich die Sonne dem Horizont entgegen, die Wolken wurden bereits in einen behaglich warmen, oragenen Farbton getaucht. Er hörte die Schritte seines Gastgebers kommen und drehte sich zu Hans um, der gerade mit vorsichtigen Bewegungen die Kaffeekanne in Richtung des Tisches brachte.

Daniel hatte vergessen, seine Tasche ordentlich an die Seite zu stellen. Das Tablett mit der Kaffeekanne versteckte sie trotzdem vor Hans' Augen. Begleitet von einem kurzen Aufschrei flog die Kanne, das Tablett und auch Hans hin. Das Klirren des Porzellangeschirrs war beinahe ohrenbetäubend nach der angenehmen Ruhe zuvor. Daniel konnte zum Glück noch ausweichen bevor sich der Kaffee mitsamt Kanne auf dem Tisch ausbreitete und die kobaltblauen Verzierungen des Porzellans auf und um den Tisch herum verteilte.

Hans stand auf, rieb sich kurz das Knie und sagte mit ehrlicher Trauer in der Stimme: "Na da habe ich eine schöne Bescherung angerichtet." "Diese Katastrophe", widersprach Daniel schuldbewusst, "haben wir glaube ich gemeinsam verursacht." Beide sahen, wie der auch der Kuchen vom Kaffee erfasst wurde. "Ich fahre eben nochmal schnell zum Konditor, um aus dieser Katastrophe nur noch ein kleines Unglück zu machen." sagte Daniel und ging hinunter zu seinem Peugeot.


Geschrieben am: 09.03.2003 (nachgebessert am 06.07.2003) von Kronn
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